Wenn Homöopathie und Esoterik mit der Wissenschaft ins gemeinsame Bett steigen

 
Wenn sich Homöopathie und Esoterik mit der Wissenschaft ins gemeinsame Bett legen 

Die Glaubenswahrheit der Bibel – ups – Glaubenswahrheit? Die Bibel beweist immer wieder ihre historische Wahrheit. Sind solche Aussagen einfach Verirrungen strenggläubiger Menschen? Nein! Nicht wenige sind von solchen Aussagen überzeugt. Glaube beruht auf Glauben und Wissenschaft beruht auf empirischer Forschung - Punkt Schluss! Leider ist dem überhaupt nicht so, die Vermischung von Glaube und Wissenschaft nimmt immer groteskere Züge an. Der niedergelassene, wissenschaftlich ausgebildete Arzt versorgt seine Patienten mit Globuli, genauso gut könnte er auch Uriella‘s Heilwasser mit göttlicher Kraft verabreichen... Die Liste an Absurditäten geht viel weiter. So können Winterthurer im öffentlichen Schwimmbad Wolfensberg in Granderwasser ihre Bahnen ziehen. Das Granderwasser wird mit Belebungsinformationen angereichert, man könnte auch die Wassertemperatur senken, dann ist die Belebung garantiert. Erstens gibt es kein Gedächtnis des Wasser, daher auch keine gespeicherte „Urinformation“. Zweitens ist jede Übertragung von Information nur mit Zufuhr von Energie möglich (wie z.B. in einem Handy). Da eine solche Energiequelle in den Grander-Geräten fehlt, ist auch die behauptete Übertragung der „Urinformation“ nicht möglich. Es gab mehrere wissenschaftliche Untersuchungen zu dem häufig behaupteten Gedächtnis des Wassers. Sie endeten alle mit dem einen klaren Ergebnis: Es konnte nicht nachgewiesen werden. Auch ist hierfür weder physikalisch noch chemisch ein Ansatz zu erkennen, weder im Molekül noch in Clustern. Trotz wiederholter Behauptungen gilt daher: Wasser hat kein Gedächtnis, es kann keine Information speichern. Die angeblichen positiven Wirkungen, insbesondere auf die menschliche Gesundheit, Übertragung von unbekannten Schwingungen auf Wasser und von „energetisiertem“ Wasser auf den Menschen sind nie beweiskräftig nachgewiesen worden. Placeboeffekte und Selbsttäuschung sind dabei jedoch nicht auszuschliessen, ähnlich wie in der Homöopathie. Bei solchen Angaben werden esoterische (nichtexistente) Schwingungen einfach mit physikalisch realen Molekülschwingungen auf dieselbe Stufe gestellt. Für esoterische Schwingungen gibt es weder eine Definition noch einen Nachweis. Will man angebliche Forschungsergebnisse einsehen, sind diese nicht verfügbar. Häufig wird mit wissenschaftlichen Begriffen gearbeitet, ohne jedoch deren Bedeutung im betreffenden Zusammenhang zu erklären.
In zahllosen weiteren Beispielen findet man Wasser angeboten als aufgeladen, belebt, energetisiert, verwirbelt und aktiviert, rechtsdrehend, strukturiert, dekonstruiert, oxidiert oder reduziert. Esoterisch „verbessertes“ Wasser, diese esoterische Fantasie, hat sicher eine positive Wirkungen. Es hilft dem Geschäftstüchtigen, den Gutgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen.  Mit Grander-Wasser wurde eine ganze Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen durchgeführt. Keine davon konnte aber ein Gedächtnis oder eine Wirkung des Wassers stichhaltig nachweisen. Zusätzlich gab es einige Gerichtsurteile gegen Grander-Firmen. In einem Urteil wird von „Quacksalberei“ gesprochen. In einem anderen wird sogar die Behauptung von E. Eder (Universität Wien) zugelassen, dass „es sich bei der Grander-Technologie bzw. dem Grander-Wasser um einen aus dem Esoterik-Milieu stammenden, parawissenschaftlichen Unfug handelt“. Auffallend, um nicht zu sagen gefährlich, ist der oft fliessende Übergang von der Naturwissenschaft zur Scharlatanerie. Zum einen werden wissenschaftliche Begriffe als leere Worthülsen verwendet, wie z.B. Frequenzmuster, Resonanz, Cluster. Zum anderen werden wissenschaftlich akzeptable Aussagen mit esoterischen Behauptungen vermischt. Dies ist für Nichtwissenschaftler kaum zu erkennen. Der Wahnsinn geht noch viel weiter. So unterwandern immer mehr Esoteriker die deutschen Hochschulen. In Esoterikpostillen sind Publikationen zu lesen zu Themen wie Gralsmythos, elektronische Magie und Ufos – einer der Autoren ist Marco Bischof. Inzwischen ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Weiter - Dietmar Cimbal trat als astrologischer Ernährungs- und Lebensberater in Erscheinung. Zuvor hat er in Tiermedizin promoviert. Die Universität Viadrina hat ihn nun zum Gastprofessor für Biokybernetik und Bioregulation berufen. Auch Harald Walach in der Eso-Szene ein Begriff, versucht er doch paranormale Phänomene mit einer grosszügigen Auslegung der Quantenphysik zu erklären. In der Esoterikszene wird das als Durchbruch bejubelt. An der Universität Viadrina leitet Wallach seit Kurzem das Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften. Dort können Ärzte, Apotheker und Therapeuten einen berufsbegleitenden Studiengang in Komplementärmedizin belegen. Abschluss: Master of Arts, Promotion zum Dr. phil. möglich.
Was an der Viadrina passiert, erstaunt vor allem deswegen, weil die Universität bisher nicht durch esoterische Umtriebe aufgefallen ist. Ihre Geschichte reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück, schon Wilhelm und Alexander von Humboldt besuchten hier Vorlesungen. Nach der Neugründung 1991 standen prominente Persönlichkeiten an der Spitze der Hochschule, erst Gesine Schwan, die zweimal für das Bundespräsidentenamt kandidierte, jetzt Gunter Pleuger, der Deutschland früher bei den Vereinten Nationen vertrat. Er sieht die Viadrina schon auf dem Weg zu einem führenden Zentrum der Komplementärmedizin. Der Fall zeigt: Irrationale Lehren findet man mittlerweile selbst an unverdächtigen Institutionen. Auch in Behörden, Bildungsstätten und Unternehmen hält die Esoterik Einzug. Oft wird der Hokuspokus dabei mit Steuergeldern gefördert. Das Land Nordrhein-Westfalen etwa bezuschusst Fortbildungen im pseudopsychologischen Familienaufstellen zu 50 Prozent aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Die Bundesagentur für Arbeit unterstützt mit Bildungs-Gutscheinen Erwerbslose, die sich zum Astrologen weiterbilden möchten. Ein Problem sieht die Bundesagentur darin nicht: Die Astrologie sei sicher keine wissenschaftlich anerkannte Disziplin, erklärt ein Sprecher, aber eine, für die es einen Arbeitsmarkt gebe. Im Klartext: In den Amtsstuben glaubt man nicht unbedingt an die Sternendeuterei, aber solange es genug andere tun, ist sie förderwürdig.
Manche Unternehmen wählen ihr Personal nach Schädelform und Sternzeichen aus. Die Gewerkschaften mischen ebenfalls mit. Ver.di beschäftigt in Hamburg eine Seminarleiterin, die energetische Psychotherapie praktiziert und ihren Kursteilnehmern empfiehlt, unliebsame Gefühle durch Klopfen auf bestimmte Körperpunkte zu lindern.
Am anfälligsten für die Unterwanderung durch Esoteriker sind ausgerechnet die Universitäten. Das Internetprojekt esowatch.com zählt deutschlandweit 17 Hochschulen mit pseudowissenschaftlichen Lehr- und Forschungsangeboten. Besonders deutlich zu beobachten ist der Einzug des Hokuspokus in der Medizin. Die Komplementärmedizin an der Universität Viadrina geht zurück auf Hartmut Schröder, einen Professor für Sprachwissenschaft, der sich inzwischen mehr für medizinische Fragen interessiert – aus rein geisteswissenschaftlicher Sicht, wie Schröder betont: Krankheit und Gesundheit werden ja kulturell sehr unterschiedlich wahrgenommen. Es gehe um ein kulturwissenschaftliches Weiterbildungsangebot für Mediziner.
Dagegen wäre nichts einzuwenden, im Gegenteil. Man wüsste gern, warum so viele Menschen auf Therapien schwören, denen jeder Wirkungsnachweis fehlt, und welche kulturgeschichtlichen Wurzeln der Glaube an Globuli oder Bachblütentropfen eigentlich hat. Gelehrt wird aber das Spektrum alternativer Medizin selbst samt Anwendung. Im Curriculum stehen Akupunktur und die Arbeit mit Heilsätzen und heilenden Klängen, in Körperübungen sollen sich die Studenten mit der chinesischen Lebenskraft Qi vertraut machen, Kurse in Ayurveda und anthroposophischer Medizin sind geplant. Ein Kooperationspartner der Viadrina war die Deutsche Gesellschaft für Energetische und Informationsmedizin, ein obskurer Lobbyverband von Medizinern, die lieber mit Schwingungen als mit dem Skalpell behandeln.

Anthroposophie als Ersatzreligion des Bildungsbürgertums

Die Idee, den Vorgang des Heilens in der Forschung ganzheitlich einzubetten, hat mir sehr gut gefallen, sagt Schwan, die inzwischen die Humboldt-Viadrina School of Governance leitet. Dass sie damit dem Aberglauben die Tür zur Universität geöffnet hat, weist sie von sich: Es ist prinzipiell seriös und richtig, komplementäre Medizin zu erforschen. Der Scharlatanerie-Vorwurf ist da kontraproduktiv. Diese Aussage ist im Ansatz richtig, nur wenn der umstrittene Studiengang durch Studiengebühren und private Stifter finanziert wird, die nicht über alle Zweifel erhaben sind, sieht es eben anders aus. Einer der Geldgeber ist die Firma Heel, die homöopathische Präparate produziert. Natürlich steht auch die Homöopathie in Frankfurt auf dem Lehrplan. Zum Schluss sollen die Studenten 80 Mittelchen kennen und einsetzen können.
Dabei ist kaum eine Alternativmedizin so krachend gescheitert wie die Homöopathie. Patientenstudien kommen zu dem Schluss, dass diese über den Placeboeffekt hinaus völlig wirkungslos ist. Heilsam ist allenfalls das ausführliche Gespräch zwischen Arzt und Patient – aber das hat weniger mit Homöopathie zu tun als mit Psychologie. Trotzdem drücken private Geldgeber die spekulative Lehre ins Medizincurriculum – nicht nur an der Viadrina. Die Karl-und-Veronika-Carstens-Stiftung unterstützt seit einem Jahr medizinische Fakultäten, die die Homöopathie als Wahlpflichtfach anbieten, und vermittelt Dozenten. An der Berliner Charité sponsert sie einen Stiftungslehrstuhl. Mit Sorge beobachtet Ernst-Ludwig Winnacker, langjähriger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und immer noch eine der wichtigsten Stimmen der Wissenschaft, den Einzug der Esoterik in die akademische Welt. Eine Universität muss nicht alles machen, und Homöopathie und Anthroposophie gehören eindeutig nicht zu ihren Aufgaben, sagt er. Hier bekommen Dinge einen wissenschaftlichen Anstrich, den sie nicht verdienen.
Die Anthroposophen sind neben den Alternativmedizinern besonders erfolgreich darin, krude Lehren mit akademischen Weihen zu schmücken. Das bizarrste Beispiel findet sich in Kassel, wo der Niederländer Ton Baars bis zum Frühjahr eine Stiftungsprofessur für biologisch-dynamische Landwirtschaft innehatte. Finanziert haben den Lehrstuhl anthroposophisch geprägte Firmen wie der Biolebensmittel-Hersteller Alnatura (in der Schweiz Partner der Migros) und die Stiftung der Darmstädter Software AG. Biodynamiker glauben, dass die Mondphasen und im Acker verbuddelte Kuhhörner das Pflanzenwachstum beeinflussen. Eine biodynamische Ernährung soll den Menschen geistig wachsen lassen. In einem seiner Artikel versucht Agrar-Professor Baars sogar die Existenz von Elfen und Klabautermännern zu belegen.
Solche Thesen kommen aus der am besten vernetzten Esoterikfraktion Deutschlands: Die Anthroposophie ist eine Ersatzreligion des Bildungsbürgertums, ihre Anhänger gehören zur Elite des Landes. Mit der alternativen GLS Bank hat die Anthroposophie ihr eigenes Finanzinstitut Der grösste Erfolg der Anthroposophen sind die Waldorfschulen, mehr als 200 gibt es bundesweit. Sie werden überwiegend von nicht anthroposophischen Eltern gewählt, die sie fälschlicherweise für Schulen der Reformpädagogik halten, sagt Heiner Ullrich, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Mainz. Dabei sind viele Waldorflehrer nicht einmal Pädagogen, sondern Quereinsteiger mit Erweckungserlebnis, die auf Seminaren in Steiners Lehren geschult werden. Das esoterische Menschenbild fliesst in die blumigen Wesenszeugnisse ein, die sie ihren Schülern am Ende des Schuljahres ausstellen. Diese Beurteilungen sind weder Lernberichte noch psychologische Expertisen, sondern beruhen auf esoterischen Lehren von der Reinkarnation und den Metamorphosen des Ich. Das kann teilweise zu drastischen Verkennungen führen. So würden Kinder mit frühen intellektuellen Interessen nach Waldorf-Lesart oft vorschnell als entwicklungsgestört etikettiert. Dass nicht das Kind gestört ist, sondern einfach das Menschenbild der Anthroposophen, ist für die Eltern auf den ersten Blick kaum erkennbar.
Genauso wie es für den Studenten schwer ist, zu erkennen, dass sich sein Professor längst der Pseudowissenschaft verschrieben hat. Oder für den Patienten, dass der Arzt ihm eine Scheintherapie anbietet. Die Esoterik tritt inzwischen mit Amt und Siegel auf.
In Kassel wollte die Universität das Treiben des Anthroposophen-Professors nach sechs Jahren eigentlich unterbinden: Die Evaluation habe gezeigt, so Hochschulpräsident Rolf-Dieter Postlep, dass die biologisch-dynamische Landwirtschaft nur begrenzt mit universitären Forschungsstandards zu vereinbaren sei. Vernichtender kann ein Urteil kaum ausfallen. Bloss hatten in der Zwischenzeit viele Studenten Gefallen an der Zauberlehre gefunden und zu Protestzügen aufgerufen. Die Universität scheute den Konflikt, man einigte sich: Die biologisch-dynamische Landwirtschaft soll künftig mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiter in Forschung und Lehre vertreten bleiben – finanziert aus Mitteln der Hochschule.
Durch die gesetzlichen Regelungen in den deutschsprachigen Ländern wurde der ausufernde esoterische Psychomarkt zunächst eingedämmt (und zu einem grossen Teil in die Heilpraktiker-Szene verschoben). In den letzten Jahren ist jedoch ein neues Interesse an spirituellen Themen in der Psychotherapie festzustellen, was am deutlichsten an der Verbreitung von achtsamkeitsbasierten Behandlungsmethoden sichtbar wird. Obwohl ihre Wirksamkeit zum Teil auch wissenschaftlich belegt ist, wird ihre weltanschauliche Neutralität nach wie vor kontrovers diskutiert.
Im Mai 2012 wurde von der Beschwerdestelle des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie beklagt, dass wissenschaftlich fundierte Psychotherapiemethoden sich zunehmend mit esoterischen, religiösen und spirituellen Methoden mischen würden. Patientenbeschwerden hätten deutlich zugenommen, die einen subtilen Druck durch Psychotherapeuten beklagten. Sie sollten im Rahmen einer Psychotherapie bestimmten Glaubensinhalten folgen und an entsprechenden Ritualen teilzunehmen, auch wenn sie diese innerlich nicht gutheissen würden. Das berufsethische Gremium verwies darauf, dass eine solche Vermischung ein klarer ethischer Verstoss gegen den Berufskodex des Psychotherapeuten darstelle. Im Juni 2014 hat das Bundesministerium für Gesundheit in Österreich eine Richtlinie zur Abgrenzung der Psychotherapie von esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden veröffentlicht. Sie wurde mit der Absicht verfasst, die psychotherapeutische Beziehung im Rahmen der fachlichen Berufsethik unter einen besonderen Schutz zu stellen und Psychotherapeuten anzuhalten, nur wissenschaftlich anerkannte Methoden anzuwenden.
Es soll bei wissenschaftlichen Laien Akzeptanz für esoterisches Wasser und alle anderen obskuren Dingen hervorrufen, dient letztendlich aber nur dubioser Geschäftemacherei.
Menschen hängen irrationalen und potentiell gefährlichen esoterischen Vorstellungen an, weil sie nicht erkennen, dass es sich um irrationale und potentiell gefährliche Vorstellungen handelt. Die daraus folgende Strategie ist ebenfalls leicht zu formulieren: Man muss den Menschen das nötige Wissen vermitteln und sie in die Lage versetzen, diese esoterischen Weltbilder als solche zu erkennen. Denn diese, das haben Rademachers Untersuchungen
gezeigt, spielen im Alltag eine grössere Rolle, als wir uns gemeinhin eingestehen. Dass spirituelle Inhalte boomen, ist an sich keine aufregende Erkenntnis. Dass viele Leute allerdings keine harte Kontroverse zwischen Wahrsagerei oder Magie und den Naturwissenschaften sehen, sei doch erstaunlich, findet Rademacher. In unserem Alltag vermischen wir immer öfter und immer freier spirituelle Inhalte mit wissenschaftlichem Denken.
Wenn also Naturwissenschaftler keine plausible Erklärung für Erlebtes liefern, bedient man sich eben
woanders – und das gilt nicht nur in Bezug auf spirituelle Inhalte, sondern zeigt sich etwa auch in der Diskussion um die Komplementärmedizin: Wieso die homöopathischen Kügelchen wegwerfen, wenn sie sich gut anfühlen! Und schliesslich klingen auch die Erklärungen von Homöopathen wissenschaftlich!
Das naturwissenschaftliche Weltbild weiss auf die Ängste der Menschen keine Antwort. Auch die Kirche mit ihrer oft unverständlichen Morallehre bietet nur noch wenigen eine emotionale Heimat. Untersuchungen eines Soziologen zeigen: Mit dem Grad der Schulbildung wächst das Interesse für Psychomarkt und Esoterik.
Es muss die Frage erlaubt sein: Was ist los mit unserem Bildungssystem, wenn sich Menschen nach 20 Jahren der Schulung im kritischen Denken einer völlig irrationalen Bewegung ausliefern? Welche Grundbedürfnisse, Sehnsüchte und Werte wurden bisher übergangen?
Die Beschränkung der Bildungskultur auf Willen und logisches Denken lässt das Leben veröden und nimmt ihm den tragenden Sinn. Mit Recht darf man von einer Verengung des Bewusstseins reden, wenn Intuition, Inspiration, Gefühle, Ergriffensein vom Transzendenten unbeachtet bleiben.
Es steht vielmehr die Tatsache im Mittelpunkt, dass sich der moderne Mensch existenziellen Verunsicherungen ausgesetzt fühlt, die ihm die Wissenschaft nicht abnehmen kann. Selbst wenn die Bedrohung reine Einbildung ist, kann sie eine gewaltige Wirkung auslösen. Doch noch so logische Argumente können einen krankhaften Zustand der Seele nicht verändern. Auch hier muss man unterscheiden zwischen dem Inhalt einer Vorstellung und der inneren Verfassung eines Menschen.
Noch nie haben die Menschen so viel Wissen und Macht besessen, und dennoch stehen sie den Grundfragen des Lebens ratlos gegenüber. Weil diese Grundfragen in Krisen oft eine Bedrohung darstellen, die rationale Bildungsstruktur aber versagt, ebenso die rationale Theologie, suchen die Menschen Hilfe in irgendwelchen Ansätzen. In einem gewissen Sinn kann man das Esoterik-Angebot als Gegenkultur zur europäischen Zivilisation sehen. Sie ist die Folge des emotionalen und spirituellen Verlustes, den der moderne Mensch durch die einseitige rationale Prägung erleidet und setzt ganz neue Akzente
Sie sind überall: Wissenschaftsgegner, Esoteriker, Homöopathen, Geistheiler. Im Internet, aber auch in durchaus seriösen Zeitungen oder im privaten Umfeld begegnet man ihnen unweigerlich von Zeit zu Zeit. Sie sorgen sich um die elektromagnetische Strahlung der Basisstationen des Mobilfunknetzes, den Feinstaub und genveränderte Pflanzen. Sie haben Angst von Impfschäden, Lebensmittelzusätzen und Weichmachern. Im Grunde würden sie am liebsten in einer Holzhütte inmitten der freien Natur leben. Andererseits möchten sie ihr Handy nicht missen und fahren natürlich einen sparsamen, nur geringfügig feinstaubenden SUV mit Dieselmotor. Ein weiteres Spielfeld von Glaube und Wissenschaft öffnet sich beim Thema ‚Intelligent Design‘. Natürlich gibt es auch viele Anhänger des Kreationismus, wie immer bei solchem Unsinn am häufigsten in den USA. Aber auch hierzulande sind sie häufig bei Evangelikalen und strenggläubigen Katholiken zu finden. Ebenso bei strenggläubigen Moslems und orthodoxen Juden. Nun ist diese wortgetreue alttestamentarische Auslegung der Geschichte an Normalos eher unverkäuflich. Der Ausweg ist der Neokreationismus. Dieser ist schön in ein wissenschaftliches Mäntelchen gepackt, man anerkennt die Dauer, nicht aber die Evolution in ihrer Ganzheit. Um das Ganze glaubhafter zu machen, gibt es Institute (Hochschulen) wie das Discovery Institute, eine christlich-konservative Denkfabrik, die als gemeinnützige Bildungsstiftung organisiert und in Seattle, Washington, USA angesiedelt ist. Auch hier wird Glauben mit wissenschaftlichen Fragmenten unterlegt, um es so glaubhafter zu machen. Wir müssen wachsam sein, nicht in ein Denkmittelalter zu verfallen, der Weg zur Intoleranz und Hexenverbrennung wäre dann nicht mehr weit entfernt.

© Kurt Schmid